>> STORIES | “Ich will die Ärzte niemals wieder sehen”

Netherlands 2017

Als das Kind von Margaretha und Daan Verhoeven geboren wird, sagen die Ärzte: Das ist ein Junge. Doch sie hatten sich geirrt.

Text von Cathrin Schmiegel

Das Leben von Jana Verhoeven*, schwarzes Haar, Augen dunkel wie der Meeresgrund, begann in einem Kreißsaal im November vor elf Jahren. Das Kind sah aus wie ein Mädchen, doch waren seine Genitalien nicht eindeutig weiblich, nicht eindeutig männlich; da war ein knopfgroßes Hautgebilde zwischen seinen Beinen. Und obwohl die Ärzte sich nicht sicher waren, sich gar nicht sicher sein konnten, trugen sie in die Geburtsurkunde ein: männlich. Immerhin, so wussten sie nach dem Test, hatte das Kind einen männlichen Chromosomensatz, 46, XY.

Die Eltern nahmen ihr Kind mit nach Hause, sie waren stolz. Es lachte viel, sie nannten es Jonas. Erst später wurde klar: Die Ärzte hatten sich mit dem Geschlecht geirrt.

Einen Tag vor dem elften Geburtstag ihres Kindes sitzen die Verhoevens im Wohnzimmer ihres Backsteinhauses in den Niederlanden, nicht weit entfernt von Deutschland und der Debatte um das dritte Geschlecht, das es nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bald geben muss. An den Wänden hängen Fotos: Erinnerungen an gemeinsame Ausflüge zum Bergsee, zur Rodelbahn, zu Jonas’ Auftritt als gestiefelter Kater im Theater. Daan und Margaretha Verhoeven, Brillenträger, 46 und 50 Jahre alt, erzählen die Geschichte von sich und ihrem Kind, das erst Jonas hieß und heute Jana heißt.

Es ist eine Geschichte über Menschen, die ihr Kind lieben und die für sein normales Leben kämpfen in einer Gesellschaft, die offiziell nur zwei Geschlechter kennt.

Jana sagt: “Ich finde das blöd, dass die Leute einem sagen, was normal ist. Ich mag nicht in eine Schublade gesteckt werden.”

“Ich finde das blöd, dass die Leute einem sagen, was normal ist. Ich mag nicht in eine Schublade gesteckt werden.”

Jonas Verhoeven trug in den ersten Jahren seines Lebens weite Sweatshirts, er baute Sandburgen und Männchen aus Knete. Einmal im Jahr, erzählen die Eltern, brachten sie ihren Sohn in eine Kinderpoliklinik zu einem Urologen und einem Endokrinologen, alte Männer, einer stand kurz vor der Pension. Die Ärzte redeten von Hoden und einem Mikropenis, sie wuchsen im Bauchraum des Kindes. Als Jonas drei Jahre alt war, so erinnern sich die Eltern, sagten die Ärzte: “Lassen sie uns den Jungen operieren. Er kann an Krebs erkranken, wenn die Hoden im Bauchraum bleiben.” Die Eltern erschraken, nickten. “Natürlich”, dachten sie. “Jonas soll gesund sein.”

Beim ersten Eingriff verlagerten Chirurgen die Hoden nach außen. Beim zweiten, Jonas war viereinhalb, verlängerten sie seine Harnröhre, stülpten das nach außen, was sie den Mikropenis nannten. Jonas wurde äußerlich zu dem gemacht, wofür die Ärzte ihn hielten. Seitdem kann das Kind nur pinkeln, wenn die Blase sehr voll ist. Dass es vielleicht kein Junge war, vielleicht gar nicht sein wollte, daran dachten die Ärzte anscheinend nicht.

Jana erzählt: “Ich bin aufgewacht im Krankenhaus, ich wurde durch einen Gang geschoben in einen grellen Raum, da standen andere Betten. Ich konnte meine Beine nicht bewegen, ich hatte Hunger, und es tat weh.”

Es war kurz vor der zweiten Operation, da ahnte der Endokrinologe: Etwas in Jonas’ Körper war anders als bei anderen Jungen. Das Kind reagierte nicht auf die Hormonsalbe, nicht auf die Hormonspritze. In diesem Moment, daran erinnern sich die Eltern, blitzte eine Erkenntnis in den Augen des Arztes auf. Er hat das Blut des Kindes getestet und versprochen: “In drei bis vier Monaten melden wir uns mit dem Ergebnis.”

Die Ärzte, erzählen die Eltern, hätten schließlich gesagt: Jonas sei ein Junge mit “partieller Androgenresistenz”, kurz PAIS. Was das bedeutet, sagen die Eltern, verrieten die Ärzte ihnen nicht, auch das Wort “intersexuell” sei nicht gefallen. Als die Verhoevens fragten: “Können wir mit anderen Eltern reden?”, hätten die Ärzte gesagt: Niemand, der so ein Kind habe, wolle darüber sprechen.

Die Tage, Wochen, Jahre nach der Diagnose suchten Daan und Margaretha Verhoeven Antworten, im Internet, in Facebook-Gruppen, in Gesprächen mit anderen Eltern. Menschen mit PAIS, lasen sie, haben 46 Chromosomen, darunter zwei Geschlechtschromosomen – ein X und ein Y, also einen ganz gewöhnlichen männlichen Chromosomensatz. Doch ihr Körper reagiert nicht oder nur teilweise auf männliche Hormone. In der Pubertät entwickeln sich Brüste.

“Ich bin aufgewacht im Krankenhaus, ich wurde durch einen Gang geschoben in einen grellen Raum, da standen andere Betten. Ich konnte meine Beine nicht bewegen, ich hatte Hunger, und es tat weh.”

Auf einer Internetseite für intersexuelle Menschen stand etwas über verschiedene Grade der Androgenresistenz, in der milden Form sehen die äußeren Genitalien teilweise männlich aus, bei vollständiger Resistenz weiblich. Jonas, das erfahren die Verhoevens, liegt zwischen in der Mitte. In so einem Fall ist unklar, in welche Richtung sich das Kind entwickelt.

Nachts im Bett redeten Daan und Margaretha Verhoeven über ihr Kind, oft stundenlang. Daan sagte zu seiner Frau: “Die Ärzte hätten nicht entscheiden dürfen, welches Geschlecht unser Kind haben soll.” Die beiden beschlossen: “Unser Kind lassen wir nie wieder operieren, wenn es das nicht will.”

Jana sagt: “Ich will die Ärzte niemals wiedersehen. Sollen die sich doch mal operieren und zu einem Mädchen machen lassen.”

Menschen mit PAIS werden häufig operiert, noch heute. Manche Ärzte und Eltern wollen ihren Kindern ein eindeutiges Geschlecht zuweisen, so hört und liest man es immer wieder von Betroffenen, denn: Ein drittes Geschlecht, also den Status “intersexuell”, gibt es in den Niederlanden nicht. Auch ist die psychologische Betreuung häufig schlechter, anders als bei Transgender, wo die Menschen sich nicht mit ihrem angeborenen Geschlecht identifizieren und sich bewusst für ein anderes entscheiden.

Wenn Ärzte in den Niederlanden das Geschlecht nicht festlegen, dürfen Eltern es in der Geburtsurkunde offenlassen, offiziell ein paar Wochen lang. Margaretha Verhoeven aber berichtet von Bekannten, die eine Entscheidung viel länger hinauszögern. Die Behörden unternehmen nichts dagegen, aber sie sind noch nicht so weit wie in Deutschland, wo nun nicht mehr darüber diskutiert wird, ob es ein drittes Geschlecht geben soll, sondern wie es benannt werden kann.

Jana sagt: “Ich finde super, wenn es in Deutschland ein drittes Geschlecht gibt. Hoffentlich ist das bald auch bei uns so.”

Nach der Diagnose lebte Jonas weiter als Junge, er lernte Karate, tanzte Ballett, er raufte sich nicht, anders als andere Jungs in dem Alter. Jonas war gerade sechs geworden, er ging jetzt zur Schule mit anderen Kindern, Jungen und Mädchen, die sich so unterschiedlich verhielten. Vor dem Badfenster schneite es, seine Mutter seifte ihn ein, die nassen Haare hingen über sein Kinn. Das Kind schaute in den Spiegel und sagte: “Guck mal, Mama, bald kann ich mir Zöpfe binden.” Margaretha strich über sein Haar, antwortete: “Fändest du das schön?”

Von da an sprach Jonas oft über Frisuren, über die Haarspangen und über die Kleider seiner Klassenkameradinnen. Ein paar Wochen später, Jonas und Margaretha lasen ein Buch, sagte er plötzlich: “Mama, sag mal, bin ich denn nicht eigentlich ein Mädchen?” Margaretha kniete sich vor ihm hin, erklärte, was er ist: ein Kind mit uneindeutigem Geschlecht. Dann sagte sie: “Du kannst sein, was immer du sein willst.”

Jana sagt: In der Schule wurde ich immer zu den Jungs gestellt. Das war komisch, ich fühlte mich wie ein Mädchen . Meine Klassenkameradinnen hatten so schöne Sachen an und lange Haare. Als ich es Mama erzählt habe, war ich nervös. Ich wusste ja nicht, wie man das erzählt. Sie war aber ganz lieb.”

” In der Schule wurde ich immer zu den Jungs gestellt. Das war komisch, ich fühlte mich wie ein Mädchen .

Meine Klassenkameradinnen hatten so schöne Sachen an und lange Haare. Als ich es Mama erzählt habe, war ich nervös. Ich wusste ja nicht, wie man das erzählt. Sie war aber ganz lieb.”

Am selben Tag kaufte Margaretha ihrem Kind ein Sommerkleid, ein rosafarbenes mit einem Pinscher auf der Vorderseite. Zu Hause streifte es Jonas über, drehte sich darin im Kreis. Die Mutter machte ein Foto, schickte es ihrem Mann per Mail ins Büro. “Guck mal”, schrieb sie, “unsere Tochter.”

In den folgenden Wochen entschied sich Jonas, ab sofort ein Mädchen zu sein. Zuerst nur im Backsteinhaus, fernab vor den Blicken seiner Klassenkameraden. Da streifte er sich Kleider über, trug Zöpfe und Haarklammern, sobald er von der Schule nach Hause kam. Schließlich, ein paar Tage später, suchte er sich seinen neuen Namen aus, ließ sich zunächst von seinen Eltern so rufen: Jana.

Jana sagt: “Ich mag meinen Namen, mein Papa hat ihn vorgeschlagen.”

Die Eltern redeten in den Wochen viel mit Freunden, einer sagte: “Ach, wie schön, dass ihr jetzt ein Mädchen habt.” Auch mit den Lehrern sprachen sie, die Janas Diagnose kannten und darauf achteten, dass das Kind sich im Sportunterricht nicht vor anderen umziehen musste.

Es war ein warmer Frühlingstag, als Jana das erste Mal als Mädchen zur Schule ging. Sie trug: einen Bobhaarschnitt, eine pinkfarbene Hose und ein T-Shirt mit einem Bild von Bambi darauf. Um 8.45 Uhr klopfte Jana an die Tür des Klassenraums, ihre Mutter hielt ihre Hand, die Lehrerin rief sie herein, sagte zu der Klasse: “Schaut mal, wir haben eine neue Schülerin, Jana.” Dann hob die Lehrerin das Mädchen auf den Schoß und erklärte der Klasse, warum es Jonas nicht mehr gibt.

Jana sagt: “Am Schulhof in der Pause kamen alle zu mir gerannt. Sie haben gefragt: ‘Bist du echt ein Mädchen?’ ‘Hast du schon ein Kleid?’ ‘Wen willst du später mal heiraten, einen Jungen oder ein Mädchen?’ Dann haben wir gespielt, Fangen, wie immer.”

Am selben Tag kaufte Margaretha ihrem Kind ein Sommerkleid, ein rosafarbenes mit einem Pinscher auf der Vorderseite. Zu Hause streifte es Jonas über, drehte sich darin im Kreis. Die Mutter machte ein Foto, schickte es ihrem Mann per Mail ins Büro. “Guck mal”, schrieb sie, “unsere Tochter.”

In den folgenden Wochen entschied sich Jonas, ab sofort ein Mädchen zu sein. Zuerst nur im Backsteinhaus, fernab vor den Blicken seiner Klassenkameraden. Da streifte er sich Kleider über, trug Zöpfe und Haarklammern, sobald er von der Schule nach Hause kam. Schließlich, ein paar Tage später, suchte er sich seinen neuen Namen aus, ließ sich zunächst von seinen Eltern so rufen: Jana.

Jana sagt: “Ich mag meinen Namen, mein Papa hat ihn vorgeschlagen.”

Die Eltern redeten in den Wochen viel mit Freunden, einer sagte: “Ach, wie schön, dass ihr jetzt ein Mädchen habt.” Auch mit den Lehrern sprachen sie, die Janas Diagnose kannten und darauf achteten, dass das Kind sich im Sportunterricht nicht vor anderen umziehen musste.

Es war ein warmer Frühlingstag, als Jana das erste Mal als Mädchen zur Schule ging. Sie trug: einen Bobhaarschnitt, eine pinkfarbene Hose und ein T-Shirt mit einem Bild von Bambi darauf. Um 8.45 Uhr klopfte Jana an die Tür des Klassenraums, ihre Mutter hielt ihre Hand, die Lehrerin rief sie herein, sagte zu der Klasse: “Schaut mal, wir haben eine neue Schülerin, Jana.” Dann hob die Lehrerin das Mädchen auf den Schoß und erklärte der Klasse, warum es Jonas nicht mehr gibt.

Jana sagt: “Am Schulhof in der Pause kamen alle zu mir gerannt. Sie haben gefragt: ‘Bist du echt ein Mädchen?’ ‘Hast du schon ein Kleid?’ ‘Wen willst du später mal heiraten, einen Jungen oder ein Mädchen?’ Dann haben wir gespielt, Fangen, wie immer.”

*Alle Namen wurden geändert

Veröffentlicht bei SPIEGEL ONLINE